Wann und wo
stadtprojektionen V hat vom 19.-22. September 2024 zwischen dem Silberturm und der Primarschule Grossacker stattgefunden.
stadtprojektionen V hat vom 19.-22. September 2024 zwischen dem Silberturm und der Primarschule Grossacker stattgefunden.
Er ist schillernd und verströmt eine raumfahrerische Atmosphäre: der Silberturm. 1973 bis 1977 errichtet, kam mit ihm ein neuer städtebaulicher Massstab nach St.Fiden. Die Anlage – sie besteht aus einem 12-stöckigen Turm und einem weitläufigen Einkaufszentrum im Bereich des Sockels – hat etwas Futuristisches: ein ellipsenförmiges Ufo, das abhebt oder in den Äther sendet, gehüllt in Aluminiumpaneele und mit abgerundeten Fenstern. Dieser grössere Massstab kommt bei insgesamt drei öffentlichen Anlagen zum Tragen, die sich in unmittelbarer Nähe zueinander befinden: einmal in der Horizontalen mit der Primarschule Grossacker (Ende der 1950er-Jahre), einmal in der Vertikalen mit dem silbernen ‹Techie›-Turm, dazwischen das Evangelische Pfarrheim mit dem Kirchturm aus Béton brut (1954).
stadtprojektionen V lädt mit neun Projektionen zum nächtlichen Flanieren in St.Fiden ein. Je drei Projektionen leuchten beim Silberturm und bei der Primarschule Grossacker, die mit Backsteinwänden, Sheddächern und einer brillanten Verbindung ihrer Gebäudeflügel mit der Landschaft hervorsticht. Drei weitere Projektionen greifen ins umliegende Wohnquartier aus und bespielen unter anderem eine ehemalige Metzgerei.
Im Rahmen von stadtprojektionen V fanden zwei Führungen statt. Die Vernissage fand auf dem Pausenhof der Primarschule Grossacker (Flurhofstrasse 77, St.Gallen) statt.
Gestaltet von Laura Prim, beleuchtet die Publikation das Ausstellungsformat und geht auf die Eigenheiten der fünf Ausgaben ein, die in verschiedenen Stadtteilen von St.Gallen stattfanden. Pro Ausgabe werden vier bis fünf Projektionen in Fotografien und Kurztexten näher beleuchtet. Dazu gesellen sich silberne Begriffspaare, die einen Eindruck von der Projektion und ihrem Nachhall vermitteln. Zwei längere Texte vertiefen den Bilderspaziergang: Die Autorin Lauren Elkin tastet sich gedanklich spazierend an die Projektionen heran. Der Text der Kunsthistorikerin Yasmin Afschar befasst sich mit Projektionen bzw. Film im öffentlichen Raum und dessen Potenzial.
Die Publikation kostet 28 CHF (zzgl. Porto) und kann per Mail bestellt werden: post_at_stadtprojektionen.ch
No Time, 2014, Film, 4 Min.
Eine Frau, mit flüchtigen Strichen gezeichnet, steht an einem Fenster und verweilt. Ein Regentag. Es passiert wenig: Sie bewegt einzig die Finger der linken Hand und dann und wann läuft ein glitzernder Tropfen dem Fenster entlang. NO TIME heisst dieser Kurzfilm von Zilla Leutenegger, die in ihrer Arbeit häufig Wandzeichnung und Filmprojektion kombiniert. NO TIME – hier ist die Zeichnung integrierter Teil des Films – liest sich als Tagträumerei, während der die Zeit keine Rolle spielt: Die Figur ist selbstversunken und scheint sich selbst zu genügen. Die Projektion von NO TIME ist als Konterpart zu Guy Ben Ners Film gedacht: Während Moby Dick für das wilde und laute Miteinander auf Schulhöfen steht, greift Leuteneggers Film eine andere Figur (des Pausenhofs) auf: Jene, die etwas alleine beobachtet, für sich und dabei zufrieden ist.
Die Projektion von NO TIME erfolgt an ein Fenster der Schulbibliothek, hinter dem sich eine holzgetäferte Leseecke befindet. Und Bibliotheken wiederum sind ruhige Orte des Nachdenkens, des Sinnierens – und manchmal des (gegenseitigen) Beobachtens anderer Lesender.
Moby Dick, 2000, Film, 12:34 Min.
Eine abenteuerlustige junge Matrosin in einer Küche, die zu einem improvisierten Schiff umgestaltet wurde, nimmt den Pausenhof der Primarschule Grossacker ein. Ihren Schabernack vollführt sie in luftiger Höhe, auf dem Giebel des Sheddaches. Ihr Gegenüber, mit dem sie im schwankenden Schiffsrumpf etwa einen Teller hin- und herpasst, ist ein erwachsener Matrose. Es handelt sich um Guy Ben Ner, der gleich mehrere Rollen in diesem Film abdeckt: Er ist Künstler, Schauspieler (in der Rolle des Ismael), Filmdirektor und der Vater der sechsjährigen Matrosin. Moby Dick lautet der Titel dieses im Jahr 2000 entstandenen Stummfilmes – eine leichtfüssige, improvisierte Adaption des bekannten gleichnamigen Romans aus dem Jahr 1851 über eine Wal-Expedition. Mit seiner Mimik und den überzeichneten Handlungen erinnert Guy Ben Ners Video an frühe Stummfilme.
Die Projektion ist angelehnt an die Wildheit von Kindern und ihre Fantasiewelten – die manchmal in der kurzen Zeit einer Pause auf dem Schulhof entstehen können.
Lila, 2021, 2 Kanal Videoinstallation, 15 Min, Ton.
Auf dem Sportplatz der Primarschule Grossacker begegnet man oder taucht gar ein in die Videoarbeit Lila von Noha Mokhtar. Der Titel bezieht sich auf eine rituelle Zeremonie der Gnawa, einer Schwarzen Bevölkerung südlich der Sahara, die im 15. und 16. Jahrhundert als Sklaven nach Marokko kam. Die Zeremonie ist eine Form von Musiktherapie und hilft der körperlichen und psychischen Heilung von Leiden. Dabei werden Teilnehmende durch ein farbbasiertes Ritual in eine mystische Trance versetzt.
Lila zeigt zwei weibliche Körper, die Gnawa-Rhythmen (komponiert vom schweizerisch-algerischen Musiker Khalil Bensid) tanzen und einen Hula Hoop Reifen schwingen. Wo bei der Betrachtung von der Treppe die Musik erklingt, taucht man bei näherer Betrachtung in die Projektion ab, wird Teil der intensiven blauen oder lila Farbfläche. Als ob man sich unter Wasser befände, verstummt die Tonebene. Die gezeichneten Linien auf dem Sportplatz werden durch die Schwingungen der Hula Hoop Reifen in Bewegung versetzt.
Mitem Mami go poste, 2024, Film, 1 Min.
In einem der unzähligen Fenster des Silberturms läuft ein Film – animierte Bewegungen, gezeichnet mit Tinte auf Glas. Unzählig sind auch die Eindrücke, die Luisa Zürcher mit St.Fiden verbindet. Im Quartier aufgewachsen, im Silberturm ein- und ausgegangen, reflektiert die Künstlerin in ihrem Animationsfilm ihre Kindheit: «Erinnerungen an schöne Gespräche, an Reizüberflutung, Stress, feines Essen, ans Klauen, sich vor Leuten verstecken, die man kennt, aber nicht sehen will, ans Warten und Anstehen», kämen bei ihr auf, wenn sie sich zurück an den Ort versetze. Mitem Mami go poste verhandelt darüber hinaus das eigenständig Werden, das Hinterfragen der eigenen Haltung gegenüber den Eltern: Wo einst eine Tat als die einer Heldin wahrgenommen wurde, wird dies auf einmal überdacht.
Entstanden ist ein Animationsfilm, in dem verschiedene Eindrücke Zürchers traumartig ineinanderfliessen – persönlich und vergangen, allgemein und gegenwärtig.
Liquid Gold, 2023, Film, 2:50 Min.
Crèmefarbene Bläschen fliessen über ein Gewerbefenster im Innenhof der Falkensteinstrasse 25. Durch Überblendung fliesst eine filmische Einstellung in die nächste. Liquid Gold von Ilana Harris-Babou zeigt angerührte Ersatzprodukte von Muttermilch, wie sie an transparenten Oberflächen hinunterfliessen oder sich zu Bläschen auftürmen. Die starke Geometrie der Innenhof-Fassade wird mit etwas Amorphem gebrochen: Die gefilmte Fläche verschmilzt mit dem Fenster. Die Gabe von Muttermilch an Babys, was mehrheitlich im Privaten geschieht, wird in den intimen Aussenraum eines Innenhofs gekehrt.
Liquid Gold reiht sich in eine Serie von Arbeiten der Künstlerin ein, die sich mit Mutterschaft, im Speziellen von Schwarzen Frauen, beschäftigt. Erst kürzlich wurde publik, dass einer der grössten Nahrungsmittelkonzerne (Nestlé) in dieselbe Babynahrungsprodukte in Afrika mehr Zucker mischt als in Europa. Der Titel der Arbeit referenziert darüber hinaus auch auf das Kolostrum, die Erstmilch, welche unmittelbar nach der Geburt produziert wird und reich an zahlreichen Nährstoffen ist.
HanaHana, 2016/2024, Video, 15 Min.
An der Decke zum Eingang des futuristischen Wahrzeichens von St.Gallen zieht uns HanaHana von Mélodie Mousset in eine surreale Landschaft – karg und meist zweigeteilt in Wasser und Sand. Eine Art Fata Morgana öffnet sich unter computergeneriertem Sonnenschein. Wie ein Mangrovenwald bohren sich Unterarme und Hände unterschiedlicher Grösse und Hautfarbe unablässig in Sand und Wasser. Durch das Einbringen weiterer Elemente aus Games wird das unaufhörliche Wachsen und Streben nach Mehr teils gebrochen und zum Stillstand gebracht. Dann wieder aktiviert sich das Gebilde von aus sich herauswachsenden Unterarmen mit Händen und animiert zum kollektiven Austausch: Eine Hand trägt einen Unterarm, gibt Energie und Halt – so wie abgerundete Betonpfeiler den ellipsenförmigen, 12-stöckigen Silberturm tragen. Die aalglatte Ästhetik von HanaHana passt zu den Alupaneelen des silbrigen Turms und zieht die grossmassstäbliche Anlage weiter ins Futuristische.
HanaHana ist 2016-2018 als Virtual Reality-Arbeit entstanden und motiviert zum kollektiven Gestalten dieser Welt. Für stadtprojektionen V hat Mélodie Mousset das Werk in einen 12-minütigen Film überführt.
Flowers from the past (no linear time), 2023, Fotoserie.
Schimmernde Paneele aus Aluminium kennzeichnen die Fassade des Silberturms. Regula Engeler begegnet dieser glatten Oberfläche mit üppiger, bunter Vegetation. Zu sehen ist ihre Fotoserie auf der erhöhten Plattform des Einkaufszentrums, die von der Bushaltestelle über eine grosse Treppe erreicht wird. Flowers from the past (no linear time), so der Titel der Serie, leuchten bei einer Terrasse, die durch ihre Schwelle einer Bühne ähnelt. Die Künstlerin arbeitet mit analogen Mehrfachbelichtungen. Sie verwendet unter anderem überlagertes Filmmaterial und überblendet neue Situationen mit einer Diaprojektion von 2020. Blumen aus ihrem Garten, in der Halbwildnis gepflückte und beim Blumenmarkt gekaufte kommen – in unterschiedlichsten Stadien von Aufblühen, Strahlen, Verwelken und Absinken – übereinander zu liegen. Es entstehen farbliche Verfremdungen, seltsame Wirklichkeiten. Für stadtprojektionen V hat Regula Engeler zwei Serien gemischt: Die eine zeichnet sich durch prägnante Lichtkegel aus, die andere durch stillere Schichtungen von Bildräumen.
Zeitlupe, 2018, Perforiertes Papier, OHP-Projektion.
Eine Schleiereule fliegt ums Eck eines privaten Durchganges, der von der Falkensteinstrasse einzusehen ist. Wo einst Fleischstücke angeliefert und auf Hochbahnen in die Lagerräume der Metzgerei Wegmann geschoben wurden, ist seit zwei Jahren Ruhe eingekehrt. Der Ort befindet sich in einem Umbruch, die Zeit steht still. Zu hören ist das Sausen des Windes, manchmal das Rascheln von Blättern im offenen Durchgang. Elisabeth Nembrini zeigt hier die Arbeit Zeitlupe (2018), ein perforiertes Papier, mittels Hellraumprojektor an die Wand projiziert. In langsamen Prozessen transformiert die Künstlerin eigene und gefundene Fotografien, indem sie sie locht, bestickt oder als Zeichnung auf Glasplatten bringt. So wirkt das Gefieder der Eule in der Bearbeitung durch Nembrini etwa wie ein prachtvolles Ornament. Kombiniert wird Zeitlupe mit einer weiteren Projektion: Ein Kolkrabe – jener Vogel, der als Aas-Fresser gilt, und ebenso wie die Eule für Lernfähigkeit und Schlauheit steht.
1180 Wien, 2010-2021, Fotoserie.
Eine alte Dame schaut filmreif in einen Spiegel, gerahmt von einer Blumentapete. Ein paar Aufnahmen später ist ein Close-up ihres gestreiften Jupes zu sehen oder sie posiert mit Goldkette und verschränkten Armen vor ihrem Kleiderschrank. Immer elegant, immer mit Haltung – das ist der Kosmos von Gerta Zahradnik, genannt Gerti, gesehen durch die Kamera ihrer Enkelin Alexandra Bondi de Antoni. Die Fotografin nahm Gerti über ein Jahrzehnt lang auf, meist in deren Wiener Wohnung. Bondi de Antoni machte damit ein privates Leben sichtbar, das keine grosse öffentliche Präsenz hatte. Mit der Projektion an das Mehrfamilienhaus an der Falkensteinstrasse 74 wird dieses Leben für vier Nächte Teil des öffentlichen Raumes. Der erste Teil der Fotoserie zeigt die Selbstliebe einer 90-jährigen Frau, die Kleidung tagtäglich bewusst einsetzt, um sich gut zu fühlen. Gleichzeitig wird deutlich, wie alte Frauen noch immer selten in medialen Bildwelten vorkommen. Wo der erste Teil der Fotoserie eine edle und zuweilen divenhafte Stimmung verströmt, zeigt sich der zweite Teil manchmal ironisch und komisch: In einer Weiterentwicklung des Fotoprojektes inszenierte Alexandra Bondi de Antoni Gerti zusammen mit ihrer Schwester Cathrine und ihrer Mutter Christine. Die Fotografin fasziniert, wie sich Kleidung und das Gefühl von Scham über Generationen hinweg anders anfühlen und wie die Körper der Frauen in ihrer Familie im Moment des Fotografierens miteinander interagieren.
Der Verein ANI freut sich über finanzielle Unterstützung für kommende stadtprojektionen:
Vereinskonto
ANI – Verein für kuratorische Projekte
St.Galler Kantonalbank
IBAN CH88 0078 1623 1108 8200 0
Herzlichen Dank an die Künstler*innen und das Projektteam:
Technik: Clemens Waibel und Bastian Lehner
Grafik: Laura Prim
Website: Jonas Huber
Übersetzung: Simon Thomas
stadtprojektionen IV wird grosszügig unterstützt durch: